Montag, 24. Oktober 2011

Was für eine interessante Weise eine Geschichte zu erzählen!

 Jaya Mahbubani hat bei ihrem Aufenthalt in Garmisch-Partenkirchen "Das Russenhaus" von Ota Filip gelesen und einiges dazu aufgeschrieben:


„Das Russenhaus“ ist mir in die Hände gefallen und ich verliere keine Zeit, mich auf das Buch einzulassen, nachdem ich die Einführung gelesen habe. Ich habe sofort angebissen! Was  für eine interessante Art und Weise eine Geschichte zu erzählen, eine Liebegeschichte, sogar eine Tragödie! 
Ganz begeistert vom Thema fange ich an und habe sofort verstanden, dass diese Geschichte auf  der Phantasie des Erzählers beruht. Er gibt ganz klar zu, dass er das Erzählte nicht mehr überprüfen kann. Also, los zur Sache Herr Erzähler!  Aber nein, er wiederholt diesen Punkt bis ich leicht ungeduldig werde.  Ich muss mit dem Lesen trotzdem fortfahren, die Sprache finde ich nämlich sehr schön, hervorragend und bildreich.

Die Szene mit der auf-dem-Dach-sitzenden Ella, hat auch mich gefesselt. Bis Seite 22 habe ich mich durch Worte verführen lassen und dann sogar gejubelt!  Nach vier Jahren, in denen Ella den Erzähler ignoriert hat, schenkt sie ihm endlich ihre Aufmerksamkeit; ein Blick, sogar ein Wort! Die Zeit, die der Erzähler verbracht hat, die Ergriffenheit, mit der er sich der Geschichte hingibt, hat sich jetzt gelohnt.
Die Zeitbarriere ist weggefallen, mit Phantasie kann er alles rechtfertigen. Die Zeit flitzt hin und her durch verschiedene Ebenen, einmal in der Gegenwart, einmal in der Vergangenheit und dann plötzlich auch in der Zukunft. Eine Reise wie auf einem Rollercoaster. Hier auf der seelischen Ebene, dann auf der psychologischen und wieder ganz banal auf der physikalischen Ebene. 

Besonders bei Kandinsky. (Interessante Weise,  diese Art des Erzählens lässt auch dem Leser seine Freiheit durch die Zeit zu schweben.) Der Erzähler sympathisiert nicht mit Kandinsky.  Er zeigt ihn als einen groben Menschen. Einen kurzsichtigen Menschen, der sich die schwarzbehaarte Brust kratzt, ein Kettenraucher, der zu viel Wodka trinkt.  Wie er die Lippen mit dem Ärmel abtrocknet und direkt aus einer Kanne Tee  trinkt oder in Unterhosen herumsteht.

Was sieht dann Ella in ihm?

Und ich, als Leserin, neige eher Ella zu bis Kandinsky selbst zu Wort kommt. Der Arme, denke ich, was sonst hätte er machen können?  Auch ihm fällt es nicht so leicht.  Er benutzt Wörter wie „terrorisieren“ für seine Situation.  Er sagt sogar „ihre Liebe war und ist für mich ein giftiges Gemisch aus aufdringlicher Leidenschaft, zügelloser Eifersucht und ihrem Anspruch, mich ganz und gar zu besitzen….“
Auf Seite 83:  „Gott hat mich.....beauftragt, neue Farben, neue Formen,  kurzum eine funkelnagelneue Umwelt zu suchen und zu malen“. S. 28:  „Muss in einer vermeintlich großen Liebe immer oder sehr oft der eine Partner, egal ob Mann oder Frau, den anderen  besitzen, ihn wie in einem Käfig, wenn auch vergoldeten, gefesselt halten? Du aber, Wassja, musst vor meiner Liebe keine Angst haben hat Ella barsch gesagt“ (ironisch!) Ella will ihn umerziehen, sie unterdrückt ihn und Kandinsky hat sich selbst Ella und dem Schicksal ergeben!

Und was für einen Einfluss hat Kandinsky auf Ella? 

Meiner Meinung zeigen die folgenden Zeilen auf Seite 64  es am besten: „die heiße Sonne trocknet die Farben aus, auch die schönsten,  lebendigen Farben verkrusten im Sonnenlicht, werden alt, runzelig, wirken verbraucht und erloschen“.
Kandinsky ist einfach zu brennend für Ella.  Er hat in ihr eine Leidenschaft ausgelöst, der sie lebenslang (und auch danach) nicht entkommen kann. Wie gesagt, hat diese Geschichte auch mich, die Leserin, gefesselt.  Zwei Tage und zwei schlaflose Nächte habe ich selbst verbracht, mit Tee statt mit Wodka und mit dem Essen statt mit Zigaretten.

Natürlich holt mich meine Gegenwart immer wieder ein, aber ich muss wie gebannt, zu Kandinsky und Ella zurückkehren.  Sobald ich zu dem Gedanke kam: "Was geht mich das alles an?  Diese sind verrückte Menschen, Künstler eigentlich, die das Leben auf eine ganz merkwürdige Weise leben,
 mit einer Leidenschaft und Verrücktheit, mit wenig Logik und eine sehr hohe Dosierung von Emotionen höre ich Ella sagen, " gerade deshalb……“.

Und das Verhältnis zwischen dem Erzähler und Ella?  Liebte er sie?

Auf Seite 18 listet er eine Menge Ursachen warum er sie nicht liebte  Aber er kann auch nicht von ihr loskommen.  Er ist durch sie gekränkt.  Für ihn ist Ella ein lebendiges Wesen, er spürt sogar ihren süßlich- sauren Duft (S. 17), er atmet sie. Er ist ratlos und obwohl er weiß, dass sie längst tot ist, projiziert er seine Phantasie auf sie. Er wird immer wieder in diesen Strudel hineingezogen. Die Liebe ist ein Nebenprodukt seiner Phantasie, eine Entgleisung seiner versagenden Vernunft.

Dieser magnetische Drang hat Ella wieder ins  Leben geholt.  Er lässt sie einfach nicht in Ruhe und dann ist Ella runter gekommen, das Dach hat sie verlassen, in das Leben ist sie wieder eingetreten.  Das Spiel ihres Lebens spielt sich ab, noch einmal, wie es sich jahrelang abgespielt hat, aber diesmal - ist der Erzähler dabei!   Wir haben eine andere Perspektive, eine  wunderschöne Idee von Ota Filip.
S 79: " So einfach ist das nicht! Solange du mich hier oben siehst, so lange muss ich hier hocken.  Du kannst dir nicht vorstellen, wie lästig und  anstrengend es für mich in den vergangenen vier Jahren war, jeden Tag vor neuem, sehr oft auch nachmittags um drei, wenn du unten aufgetaucht bist, aufs Dach zu segeln!  Ich bin schließlich nicht mehr die Jüngste!“

Also, wir sehen die Entwicklungen, wie einen Film, formen Meinungen dabei, sympathisieren oder nicht. Vieles in diesem Buch hat mir gefallen, nicht am zuletzt die Spiele mit Worten. Die geschickte Weise  wie  die Atmosphäre daraus entsteht, und ich mich dabei fühlte. Nicht in Ideen, nicht im Buch aber körperlich in Garmisch-Patenkirchen!  So sehr habe ich die Vermutung genossen, dass vielleicht ich in Ella und Kandinskys Fußstapfen treten könnte, was für eine romantische Idee! 

Was mich noch persönlich betrifft:

Philosophische Gedanken spiegeln sich in Kandinskys Rede (er ist von Madame Blavatsky und der Theosophie beeinflusst – eines meiner Lieblingsthemen).  Sehr schöne Ideen äußert er, besonders auf Seiten 172-185. Ich mag auch, wie Kandinsky sich Ella gegenüber rechtfertigt, wie er das Russenhaus als Fluchtort sieht, um zu überleben, nicht unterzugehen,  wie  er prophezeit. Besonders schön ist der letzte Abschnitt auf Seite 111.

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